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Gute Gründe, mir selber Briefe zu schreiben

Autorenbild: Josef BrogliJosef Brogli

Aktualisiert: 22. März 2023


Die Ideen kommen beim Gehen oder beim Zeichnen oder beim Schreiben. Schreibe ich mir selber einen Brief, ist dies ein innerer Dialog, der durch das Versenden per Post unterbrochen wird; hat die Postfrau mir meinen Brief gebracht, öffne ich ihn und lese. Seit dem Versenden hat sich meine Stimmung oder Einstellung geändert; ich begegne mir nach einer zeitlichen Distanz anders.


Das Schreiben wirkt auf mich disziplinierend. Ob von Hand oder tippend – das Denken erfährt laufend Verzögerungen, es kann eine Bremswirkung haben. Der geistige Motor wird nicht überhitzt. Disziplinierend wirkt die Briefform auch, weil ich mir bewusst bin, dass ich bald mit meinen eigenen Gedanken und Formulierungen konfrontiert werde.


Selbstverständlich beginnt auch der Brief an mich selber mit einer Anrede: Wer bin ich dabei mir selber? Einfach mein anderes Ich? Mein Lieber? He Du! Hallo Josef. Es tut gut, den Bezug zu mir selber schon mit der Anrede zu bedenken.


Mein Brief ist etwas verbindlicher als der Eintrag im Notizbuch; dem Inhalt gebe ich etwas mehr Gewicht.


Ich gebe den Brief und damit das Geschriebene aus der Hand, schicke es auf die Reise – zu mir. Schon der Gang zum gelben Briefkasten der Post ist ein Entfernen vom Zuhause. Ich gehe auf Distanz.


Mein Brief ist ein, zwei Tage unterwegs. Vielleicht vergesse ich ihn gar für ein paar Stunden. Ich erinnere mich dann nicht mehr an die konkrete Formulierung, vergesse den Schwerpunkt. Ich bekomme Distanz.


Öffne ich meinen Briefkasten, mutet mich mein Brief manchmal seltsam an. Ich bin etwas verunsichert: Was genau erwartet mich jetzt? Denn vielleicht hat sich in der Zwischenzeit einiges ereignet, was meine Einstellung zum Geschriebenen verändert hat. Vielleicht erlebe ich den Reinhard-Mey-Effekt: Und dann würde, was uns gross und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.



Als Variante zum Brief kommt auch eine Postkarte infrage.


Am liebsten sind mir dabei die blanco-Postkarten, sodass sich die eine Seite gestalten lässt: zum Beispiel mit einer Fineliner-Skizze, mit Aquarellfarben koloriert. Schon nur dieser Vorgang des Gestaltens kann ein Teil der Verarbeitung sein. Die Postkarte an mich kommt mit wenig Worten aus, dominierend sind Formen und Farben.


Im Laufe der Zeit ergibt sich eine kleine Sammlung von Briefen und Karten. Ich könnte in einem Schuhschachtel grossen Schaukasten mein kleines Museum errichten.


Gute Gründe, mir selber Briefe zu schreiben.


Künstlerinnen und Philosophinnen als Vorbild


Ich kann Postkarten an mich selber nicht denken ohne Franz Marc und Else Lasker-Schüler; diese standen während Jahren in einem regelmässigen künstlerischen Dialog via Postkarten. Es ist höchst wahrscheinlich, dass sie an eine Publikation dachten. Vor Jahren gab es in München eine Ausstellung und einen Katalog dazu in Buchform. Dürfte ich von meinen vielen Büchern nur 10 behalten, dieser Band wäre darunter.

Bis heute schreiben Philosophinnen Briefe mit der Absicht, diese zu publizieren. Theodor W. Adorno, Jacques Derrida, Martha Nussbaum oder Hannah Arendt führen eine Tradition aus der Antike fort. Dem zugrunde liegt eine tiefe philosophische Haltung:


Wenn Philosophinnen Briefe schreiben anstatt Bücher oder Aufsätze, signalisieren sie, dass sie nicht eine wissenschaftliche abgesicherte Aussage machen wollen, sondern einen vielleicht noch unfertigen Gedankengang beschreiben. Im Brief lässt sich zwangloser argumentieren, Unsicherheiten dürfen offenliegen, Gegenmeinungen können erfragt werden. Briefe sind auch hier eine Einladung zum Dialog.



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