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Knicks vor "Knigge"



Was Sie im Folgenden erwartet:


„Knigge“ ist die Kunst, Schwächen zu ignorieren · Prestige will verzinst werden · DIE „Knigge“-Regeln gibt es nicht · „Knigge“ kann Kettenreaktionen unterbrechen · Mit "Knigge" und Hieronymus Bosch gegen zyklische Wechsel · "Knigge": Unanständige Menschen mit Fragen unterbrechen · „Knigge“ telefoniert schwiizerdütsch · Warum tragen Pflege-Roboter keine Sonnenbrille?


DIESER BEITRAG IST AUSSCHLIESSLICH MIT MEINER NATÜRLICHEN INTELLIGENZ ENTSTANDEN, GESTÜTZT AUF ANALOGE UND DIGITALE RECHERCHEN.


„Knigge“ ist die Kunst, Schwächen zu ignorieren


Artischocken, Muscheln und anderes werden von Hand gegessen; zum Reinigen der Finger wird manchmal neben den Teller eine Schale mit warmem Wasser hingestellt. Ein Gast, der mit dieser Essgewohnheit nicht vertraut war, trank aus dieser Schale; die Gastgeberin trank mit… äusserlich ein Verstoss gegen die «Regel»; von der Haltung her perfekt «Knigge».


Es gibt Menschen mit dem Bedürfnis, andere zu belehren, was «anständig» oder eben «unanständig» sei. Sie nehmen für sich in Anspruch, die Regeln zu kennen und diese auch durchzusetzen. Dass sie dabei den Grundsatz von «Knigge» verletzen, die Würde zu wahren, bemerken sie wahrscheinlich gar nicht.


Höflichkeit nach «Knigge»-Regeln kann eine ausgesprochene Dummheit sein, sagte zumindest der Philosoph Arthur Schopenhauer.


Höflichkeit ist die systematische Verleugnung des Egoismus. Höflichkeit ist eine stillschweigende Übereinkunft, die gegenseitigen Schwächen zu ignorieren, so dass sie weniger deutlich zu Tage kommen. Höflichkeit ist Klugheit, folglich ist Unhöflichkeit Dummheit.



Prestige will verzinst werden


Vor Jahren hatte ich eine politische Diskussion zu leiten. Nach der Begrüssung zog mich ein Ständerat am Ärmel und flüsterte mir zu: «Junger Mann (ich war 42), wenn Sie Politiker begrüssen, müssen Sie einen Ständerat immer zuerst begrüssen, also vor einem Nationalrat oder einem Gemeinderat.» Der mahnende Mann war schweizweit bekannt als Ständerat, Jurist, Brigadier – es genügte ihm offenbar nicht, ein Prestige als einflussreicher und mächtiger Mann zu haben; er war darauf angewiesen, sein soziales Kapital der Bekanntheit ständig verzinst zu bekommen, eben zum Beispiel durch die Erstnennung bei Begrüssungen.


Ob unser Ständerat bei Jean-Jacques Rousseau gelesen hat?


Höfliche Manieren sind nur ein Schein, ein Tun als ob, Masken. Die Herzensgüte, die wohlwollende Gesinnung ist wesentlich. Ob man diese Gesinnung hat, zeigt sich ganz leicht. Nur wer die falsche Gesinnung hat, beharrt auf Regeln und Vorschriften für gute Manieren.



DIE „Knigge“-Regeln gibt es nicht


Asfa-Wossen Asserate schreibt in seinem Buch «Manieren» (2003)

Verbindliche Regeln, wie man Menschen begrüsst, wie man sie anredet, wie man isst, wie man Gäste empfängt, wie man heiratet und wie man stirbt, gibt es in Deutschland nicht mehr.


Dem guten Mann möchte ich entgegenhalten: DIE Regeln gab es nie weder in Deutschland noch in der Schweiz. Es gab und gibt regionale, schichtspezifische, religiöse Unterschiede; die städtische Kultur hatte andere Umgangs- und Verhaltensregeln als die ländlich-bäuerische. Von seiner (adligen) Herkunft her bezieht er sich vielleicht auf die ihm vertraute Schicht des gehobenen Bürgertums.


„Knigge“ kann Kettenreaktionen unterbrechen


Erinnern Sie sich an den ehemaligen deutschen Aussenminister Joschka Fischer? Er ist heute als Redner und Experte international unterwegs. Als junger Abgeordneter im deutschen Bundestag (dem «Nationalrat» der Deutschen) kümmerte er sich weder um Kleidervorschriften noch rhetorische Feinheiten. Berühmt geworden ist er auch für einen Zuruf an den Präsidenten des Parlaments: "Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!"

Die Nachgeschichte ist interessant: Da zuvor die Sitzung schon unterbrochen war, kam diese Beleidigung nicht mehr ins Protokoll. Und am nächsten Tag nahm Fischer seinen Satz zurück. Und Fischer hatte gesagt…»mit Verlaub»; dieser Ausdruck stammt aus der gehobenen Sprache; er wird verwendet, wenn man eine grob anmutende Aussage abschwächen will… Die Beleidigung Fischers ist also sprachlich vulgär und gleichzeitig gehoben ... Was sagt uns das?


Wer eine Aussage zurücknimmt, erklärt, dass er sie nicht mehr als zutreffend betrachtet; vielleicht ist sogar der Wunsch damit verbunden, dass die andere das Fehlverhalten entschuldigt. «Es war nicht so gemeint» oder «es ist mir so herausgerutscht, ohne langes Überlegen» ist der nachträgliche Versuch, einen Vorfall zu relativieren.

Aus Sicht der praktischen Philosophie ist diese Reaktion sinnvoll, weil eine drohende Kettenreaktion (in der Fachsprache «zyklischer Wechsel») vermieden werden kann:


Fischer hatte vor seiner Beleidigung den Präsidenten «normal» kritisiert. Dieser drohte, die Sitzung zu unterbrechen und Fischer auszuschliessen. Das wiederum bemängelte Fischer. Jetzt ging's los. Die Beteiligten nehmen nur noch die eigene Seite des Konflikts wahr und rechtfertigen ihr Verhalten als Reaktion auf die Vorwürfe und somit die vorangegangene Provokation des anderen. Der Streit gestaltete sich als ein zyklischer Wechsel von gegenseitigen Vorwürfen und Verteidigung. Keiner der beiden wollte anerkennen, wo die eigentliche Ursache lag. Beide gingen davon aus, dass die Auseinandersetzung einen konkreten Anfang habe., aber nicht denselben. Die beiden waren sich vorher schon nicht grün, das Problem ist im Laufe der Zeit entstanden.


Wenn es gelingt, einen solchen Verlauf zu durchbrechen, kann eine Eskalation vermieden werden. Wenn einer der beiden Kontrahenten den Mut hat, einen ersten Schritt zu machen, selbst wenn er sich im Recht fühlt, wäre das echt "Knigge".


WIR UNTERSCHEIDEN UNS WENIGER DURCH DAS, WAS WIR SUCHEN, ALS DURCH DAS, WOVOR WIR AUSWEICHEN. Hans Kudszus, Philosoph


Und nicht zuletzt: Im Prinzip ist es im Alltag oft klüger, bald Kompromisse zu machen als unendlich lang auf Konsens hinzuarbeiten.


Mit "Knigge" und Hieronymus Bosch gegen zyklische Wechsel


Ich hatte ein weiteres Qualifikationsgespräch mit Frau P. zu führen. P. war mir und einer Kollegin durch unangenehmes, sprich provokatives Verhalten, aufgefallen. Die vorangegangenen Gespräche waren harzig verlaufen. Ich wollte aber auch diesmal ein faires und korrektes Gespräch führen. Das gelang einigermassen. Meine Absicht war, aus diesem zyklischen Wechsel herauszukommen. Ich wusste, dass P. und ich ein gemeinsames Interesse hatten am Renaissance-Maler Hieronymus Bosch († 1516). In der Buchhandlung entdeckte ich eine Kulturzeitschrift mit Bosch als Schwerpunktthema. Ich kaufte zwei Exemplare und übergab eines an Frau P. nach dem Gespräch. Vielleicht könnten wir uns mal bei einem Pausenkaffee darüber unterhalten? – Dazu kam es nicht mehr; P. verliess das Unternehmen vorher schon. – Es wäre der Versuch gewesen, den zyklischen Wechsel zu unterbrechen.


Knigge: Unanständige Menschen mit Fragen unterbrechen


Apropos Unterbrechen: Wenn Sie einem unhöflichen Menschen begegnen, der Sie verbal bedrängt, hilft vielleicht dieses Verhalten: Fragen Sie, was 45 x 268 gibt.

Kürzlich ist mir im Wald eine Frau begegnet, die mich höflich-säuerlich zurecht wies, weil ich von einem offenbar geschützten Strauch Zweige abgebrochen hatte. Meine Reaktion: «Mein Name ist Josef Brogli. Sie sprechen mich einfach so an. Ich möchte wissen, wer SIE sind und woher Sie das Recht nehmen, mich einfach anzusprechen und zu kritisieren.» - Die Frau war perplex, wollte ihren Namen nicht nennen und faselte etwas von Naturschutz. – Wir kamen dann trotzdem ins Gespräch und verabschiedeten uns freundlich. Ihren Namen wollte mir die Frau nicht nennen. – Hatte sie recht?


„Knigge“ telefoniert schwiizerdütsch


„Eusi Praxis isch offe vom halb Nüni bis Zwölfi und am Nomittag vom halbi Zwei bis am Foifi. I Notfäll chönnt Sie aalüte uf nullzwoesächzg sächsdrüedriisig nullfoif drüedachzg. - Dass Unternehmen mit einer potenziellen Notfall-Kundschaft am Telefon in Mundart kommunzieren, ist unklug; dass ICH das Unternehmen nicht auf den Mangel hingewiesen habe, isch glaub weniger guet, aber als Schwiizer mischt me sich halt ungärn ii, gälled Sie!


DAS BÖSE, DAS WIR TATEN, IST EINE KLEINE LAST, VERGLICHEN MIT DEM GUTEN, DAS WIR HÄTTEN TUN KÖNNEN. Hans Kudszus, Philosoph


Ich rufe meine Versicherung an: „Hgtblrr! grrrz.“ Ich verstehe den Namen nicht. „Grüezi Herr… ich habe Ihren Namen nicht verstanden. – „Hgggtblrr.“ – Exgü si, könnten Sie Ihren Namen langsamer aussprechen, damit… „Huu—gen—toob--lerrr!“ Herr Hugentobler hat nun ein leicht grollendes Tremolo in den ungeduldigen Stimmbändern, setzt aber genügend rhetorische Schmierseife ein und wirkt so professionell höflich, aber unangenehm.

Der Undeutlichkeit beim Sprechen liegt keine böse Absicht zugrunde. Die meisten „Knigge“-Verstösse sind Gedankenlosigkeiten – also solche versuche ich sie auch zu behandeln. – Weisch wie n’i meinää?


Warum tragen Pflege-Roboter keine Sonnenbrille?


Ich treffe mich mit X. im Restaurant. Sie legt ihre Sonnenbrille erst ab, als es ums Zahlen geht. Macht nichts, ich weiss ja, dass sie blaugrüne Augen hat. – Warum habe ich sie nicht gebeten, die Sonnenbrille abzulegen? – Weil mir die richtigen Worte nicht einfallen wollten? Weil mein Wunsch als versteckte Kritik angekommen wäre? Weil ich X. um die Anerkennung ihres Statussymbols oder die Wertschätzung ihrer Coolness gebracht hätte? Cool bedeutet, keine Gefühle zu zeigen. Ich frage mich, warum Pflege-Roboter keine Sonnenbrille tragen...Die sind doch nicht etwa ...?


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